1) Krieg in Europa, Corona-Krise, Flutkatastrophe, verheerender Bericht des Weltklimarates – Welche Erkenntnisse können wir aus den aktuellen Entwicklungen im Weltgeschehen ziehen?

Alice Berger, UNO INO: Eine wesentliche Erkenntnis ist die, dass wir in Deutschland und der EU insgesamt zu sehr auf kurzfristigen Wohlstand und Wachstum statt auf strategische und kluge Politik, eine nachhaltige Politik, gesetzt haben. Noch wenige Tage vor dem 24. Februar hätte kaum einer oder eine vermutet, dass Russland tatsächlich internationales Völkerrecht bricht, indem der Kreml einen Angriff auf die Ukraine startet und wir uns mitten in Europa im Krieg befinden. Und doch hat sich das Drama lange angebahnt – mit der EU und insbesondere Deutschland als nicht unwesentliche Protagonisten. Der Kaukasuskrieg im Jahr 2008, 2014 die Annexion der Krim und der Beginn des Krieges in der Ostukraine, aber auch russische Interventionen wie seit 2015 in Syrien hätten uns alle Warnsignale des russischen Imperialismus‘ sein können. Stattdessen fütterten und stärkten wir einen Wolf, der uns nun zu fressen beginnt. Wir steckten Geld in veraltete Industrien, statt die erneuerbaren Energien ausreichend zu fördern. Diese Fehlallokation von Investitionen lassen uns heute also vermeintlich hilflos dastehen, weil wir abhängig sind von einem Despoten, der unsere Sanktionen doch schon lange eingepreist hat. 100 Milliarden Euro werden nun in deutsche Rüstungsvorhaben gesteckt und ich frage mich, wie wir heute dastünden, wenn wir dieses Geld Jahre zuvor in die Friedenssicherung Europas investiert hätten, indem wir die heranwachsenden Demokratien in unseren östlichen Nachbarländern unterstützt und stabilisiert hätten.

Aber nicht nur der Krieg in der Ukraine offenbart, dass wir zu lange nur reagieren, statt zu gestalten. Auch die Flüchtlingskrisen, die Corona-Pandemie und allen voran der Klimawandel mit verheerenden Auswirkungen auch bei uns, wie der Flut im letzten Jahr, sind nur Beispiele des „change by desaster“. Die Erkenntnis in der aktuellen „Zeitenwende“ ist also sicherlich, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Dass wir loskommen müssen von der „German Angst“ und Risiken eingehen, um unsere Zukunft zu gestalten. Das ist nachhaltige Politik: Den Mut zu haben und die Verantwortung zu übernehmen, auch über Legislaturperioden und politisches Kalkül hinaus Entscheidungen zu fällen, die kurzfristig betrachtet vielleicht unbequem sind. Wir sehen doch gegenwärtig, dass sich die Gesellschaft nach Selbstwirksamkeit sehnt. 55% der Deutschen sind für ein sofortiges Embargo fossiler Energien aus Russland, um unsere Wirksamkeit für den Frieden zu erhöhen. Auch die Wissenschaft bestätigt, dass ein sofortiger Ausstieg möglich wäre. Und dennoch scheut sich die Politik, diese Sanktionen einzuleiten und diskutiert stattdessen Rabatte im Benzinpreis für alle, statt gezielt einkommensschwache Haushalte zu unterstützen. Damit kann sie die jüngst gestärkte Einigkeit in der Europäischen Union gefährden und finanziert über Steuergelder zunehmend die Kriegsmaschinerie Russlands. Sinnvoller wäre es doch ernsthaft und glaubwürdig zu vermitteln, dass kurzzeitiger Verzicht für ein übergeordnetes Ziel sinnvoll sein kann und uns nachhaltig guttut. Dann lernen wir das auch für den Klimaschutz.

2) Ist Frieden also die Grundlage für Nachhaltigkeit?

Alice Berger, UNO INO: Nachhaltigkeit zu verstehen, bedeutet auch zu verstehen, dass alles mit allem zusammenhängt: Wir sehen ganz aktuell, dass der Krieg in der Ukraine viel weitreichender ist als die militärischen Angriffe Russlands im Land. So droht eine zunehmende weltweite Hungersnot durch fehlende Weizenlieferungen aus den beiden Ländern, was wiederum zu Konflikten in andere Regionen führen kann. Es sind bereits 2,8 Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet, was wiederum weitreichende Auswirkungen auf die Länder und den Zusammenhalt in der Europäischen Union haben wird. Das zeigte nicht zuletzt auch der Krieg in Syrien. Krieg ist durch den gigantischen CO2-Ausstoß und die Zerstörung von Biotopen und Naturschutzgebieten ohnehin Klimakiller Nummer 1. Also, ja, Frieden ist die Grundlage für Nachhaltigkeit. Gleichzeitig aber ist Nachhaltigkeit auch die Grundlage für Frieden. Denn ohne eine weitreichende und schnelle Transformation hin zu einer nachhaltigen Entwicklung, stehen doch die nächsten Kriege und Fluchtbewegungen durch Klimakrisen, Hunger und Armut vor der Tür.

Die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen stellen das in einem kreisförmigen Logo sehr anschaulich dar: Jedes Ziel – von „Keine Armut“ über „Weniger Ungleichheiten“ und „Maßnahmen zum Klimaschutz“ bis hin zu „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ – bedingt die anderen, keines steht für sich allein. Lasst uns anfangen, diese Ganzheitlichkeit zu verstehen und zu leben.

3) Was können denn, politisch betrachtet, ganz aktuell Lösungsansätze sein?

Alice Berger, UNO INO: Zunächst ist es wichtig, zu analysieren, welche Fehler in der Vergangenheit begangen wurden. Und das passiert ja in Teilen gerade auch auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Es gilt zu verstehen, warum diese Fehler gemacht wurden und was das für unser zukünftiges Handeln bedeutet. Wir können jetzt die Chance nutzen, uns neu auszurichten und zu verinnerlichen, dass der Frieden in Europa, der Wohlstand und die Freiheiten, die wir leben, zerbrechlich sind. Kurz angerissen bedeutet das, erstens, dass wir uns stärker einsetzen müssen für die demokratischen Werte, auch durch Einigkeit innerhalb der EU und Klarheit gegenüber Drittstaaten. Das bedeutet, zweitens, dass wir so gut es geht versuchen müssen, alle Menschen unserer Gesellschaft mitzunehmen, indem ganz akut einkommensschwache Haushalte und strukturschwache Regionen gefördert sowie Beteiligungsprozesse gestärkt werden. Und das bedeutet, drittens, dass wir „change by design“ folgen, indem wir über Umschulungen und neue Bildungswege Fachkräfte ausbilden, die mit ihrer Arbeit die nachhaltige Transformation beschleunigen.

4) Nachhaltige Transformation wird auch in Unternehmen als das wesentliche Zukunftsthema adressiert. Jedoch ist der Ausgestaltung häufig halbherzig. Warum ist das so? Und ergeben sich aus der aktuellen Krise hier eher Chancen oder Risiken?

Anita Merzbacher, UNO INO: In der Wirtschaft hat Nachhaltigkeit erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Zuvor haben die ökologischen und sozialen Aspekte des unternehmerischen Handelns eine eher untergeordnete Rolle gespielt, es wurde sehr stark rein in Richtung wirtschaftlicher Profit gehandelt – Gewinnmaximierung als oberstes Ziel ohne Berücksichtigung der ökonomischen und sozialen Auswirkungen. Externe Kosten, wie Wasserverschmutzung oder CO2-Ausstöße, wurden nicht ausgewiesen und von der Gesellschaft getragen. Das ändert sich gerade massiv und das ist gut so, schaffen wahre Preise doch die Grundlage für Transparenz im Einkauf und in den Lieferketten für Kunden und andere Interessengruppen. Unser knappstes Gut, eine intakte Umwelt, wird teurer und entsprechend ausgewiesen.

Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist wie ein Brennglas, er verschärft die Situation und verkürzt die Zeit, die Unternehmen zur Verfügung steht, sich nachhaltig aufzustellen. Denn gestiegene Energiekosten, unsichere Lieferketten, instabile politische Lagen usw. führen zu enormen Herausforderungen für Unternehmen. Insbesondere in Branchen wie der Wohnungs- und Bauwirtschaft führt die gegenwärtige Krise zu enormen Verteuerungen und Abhängigkeiten.

Die Risiken für Unternehmen, die eine „Weiter so“-Mentalität an den Tag legen und ihre Geschäftsmodelle aus der Vergangenheit fortführen wollen, erhöhen sich mit jedem Tag in einer neuen geopolitischen Ordnung. Für Unternehmen, die mutig neue Wege gehen, die nicht an alten betriebswirtschaftlichen Glaubenssätzen festhalten und bereit sind, ihr gesamtes Unternehmenssystem nachhaltig auszurichten, verbessern sich die unternehmerischen Chancen.

5) Was können Unternehmen und Organisationen tun, um sich einerseits besser auf aktuelle Herausforderungen einzustellen und anderseits für die Zukunft resilienter zu werden?

Anita Merzbacher, UNO INO: Ein wesentlicher Punkt hin zu mehr Krisenfestigkeit ist, die aktuelle Situation mit all ihren Schwierigkeiten zu analysieren und zu verstehen z.B. mit Hilfe einer Sustainable SWOT: Wo sind meine Nachhaltigkeits-Risiken (Lieferkette, Energiekosten, soziale Unruhen usw.)? Wo liegen meine Chancen (neue Produkte und Dienstleistungen)? Wo sehen wir heute Schwächen (regulatorische Vorgaben usw.)? Was läuft schon gut? Dieser kurze Blick auf den Status Quo ist einfach, wird aber in vielen Unternehmen, gerade bezogen auf Nachhaltigkeitsaspekte, aktuell noch nicht gemacht. Aufbauend auf dieser Sustainable SWOT gilt es dann, die eigene Unternehmensstrategie und folgend das Geschäftsmodell nachhaltig auszurichten. Idealerweise führt die nachhaltige Unternehmensstrategie zu einem positiven Impact auf die Gesellschaft. Allerdings reicht eine Nachhaltigkeitsstrategie neben einer bestehenden Unternehmensstrategie dabei nicht aus. Nachhaltigkeit sollte, um langfristigen Erfolg zu erzielen, in die Unternehmensstrategie integriert werden. Nachhaltige Aspekte fließen zukünftig in alle Unternehmensbereiche ein (Einkauf, Supply Chain Management, Vertrieb, Produktion, Personal, Unternehmenssteuerung, IT usw.)

Die Resilienz im Sinne von Krisenfestigkeit steigt im Unternehmen dann an, wenn Nachhaltigkeit immer mehr zum Wesenskern des Unternehmens wird, d.h. zur DNA des Unternehmens gehört.

6) Menschen setzen sich für Menschen ein. Das zeigt die aktuelle Krise sehr deutlich. Wenn es eng wird, rücken wir zusammen, sind hilfsbereit und teilen. Was sagt uns das mit Blick auf die Personalarbeit und Unternehmenskultur?

Anita Merzbacher, UNO INO: Mitarbeiter*innen bewegt ein starkes WHY ihres Unternehmens und eine am Gemeinwohl ausgerichtete Unternehmenskultur. Heute wird vielfach auch von Purpose gesprochen. Wenn Menschen Sinn in dem finden, was sie tun, arbeiten sie gerne und setzen sich für ihr Unternehmen ein. Dann sind Burnout, innere Kündigung usw. Themen von gestern. Und das können wir ganz stark aus der Krise lernen: Menschen brauchen keine Strukturen oder Regeln, sie brauchen ein starkes Warum, Verantwortung- und Gestaltungsmöglichkeiten. Dann sind sie in der Lage in Eigenorganisation im Sinne des Unternehmens zu agieren. Das macht Hoffnung.